Rolling Stone präsentiert

Emiliana Torrini

Support: Jaako Eino Kalevi

Fotocredit: Dean Rogers

Eine große Kiste unter dem Dachgeschoss. Darin: Liebesbriefe. Dutzende Liebesbriefe, von Männern aus der ganzen Welt, über Jahrzehnte geschrieben an eine Frau, deren Leben so spannend war wie auch geheimnisvoll.

Von diesem Ausgangspunkt aus hat Emilíana Torrini MISS FLOWER entwickelt, ihr erstes Soloalbum seit zehn Jahren. Was klingt wie ein absurdes Märchen oder der Einstieg in einen Familienroman, ist Torrini wirklich passiert: nach dem Tod der Mutter einer ihrer engsten Freund:innen fanden sie in deren Wohnung die Kiste mit besagten Liebesbriefen, säuberlich in Ordern sortiert. „Sie hatte neun Heiratsanträge bekommen, aber nie geheiratet“, erzählt Torrini, „wir haben angefangen, einige dieser Briefe, meist, aber nicht nur, von Männern zu lesen. Sie waren ziemlich besessen von ihr, total verknallt.“ Lachend und heulend arbeiteten sie sich durch die Briefe, lasen staunend, dass die Mutter, Geraldine Flower, nach der das Album auch benannt ist, als Teenager einen Nebenjob hatte, bei dem sie ein Löwenjunges nachts durch die Friedhöfe Londons spazieren führte. Oder dass ihr ein Mann schrieb, dass er an sie denke, wenn er den Rasen mäht. „Das hatte so eine Sixties-Sexiness“, sagt Torrini und lacht, „da habe ich meine Freundin gefragt, ob ich darüber einen Song machen darf.“

Sie durfte. Und praktischerweise ist ihre Freundin mit Emilíana Torrinis langjährigem Keyboarder und Songwriting-Partner Simon Byrt verheiratet. Im kleinen Homestudio im Garten, zu ihren Füßen der Hund von Geraldine, lassen sie sich vom Brief inspirieren und entwickeln daraus einen Song. Und hören nicht mehr auf: aus dem Fundus der Kiste ziehen sie immer mehr Briefe und Geschichten und lassen sich zu immer neuen Songs, neuen Narrativen, aber auch neuen Soundlandschaften und Klangwelten inspirieren. So entsteht über zwei Jahre MISS FLOWER. „Es sollte eine Popplatte werden, wir wollten es anders machen“, erinnert sich Torrini. Sie flechten die Narrative ineinander, ein Song kann auf Basis von dutzenden Briefen einer Person entstanden sein. Jeder Song ist unterschiedlich in Soundwelt und Struktur. Klar, beziehen sie sich doch auf sehr unterschiedliche Menschen und Charakteren:„Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sich sogar mein Akzent verändert.“ Zusammengehalten werden die Stücke von Emilíana Torrinis unverwechselbarer Stimme, dem Fokus auf elektronische Elemente und einer einzigartigen Mischung aus Melancholie und Witz.

So ist „Lady K“ etwa ein tanzbares, Triphop-inspiriertes Stück, das sich auf eine Geschichte aus Briefen der großen Liebe von Geraldine bezieht und nach dem Boot benannt ist, auf dem sie gemeinsam urlaubten. „Black Water“ dagegen ist ein hypnotisches Stück voller mysteriöser Spannung, bei dem Torrini von intimer Rezitation aus Briefen eines mutmaßlichen amerikanischen Liebhabers in verträumt verzerrtem Gesang verfällt, der wie mit Wasserfarben gemalt schillert. „The Golden Thread“ erzählt dramatisch von einem Expartner in Australien, der ihr in leidenschaftlichen Briefe beschreibt, wie er ununterbrochen an sie denkt – auch wenn er mit seiner neuen Partnerin zusammen im Bett liegt. Ein Höhepunkt des Albums allerdings ist zweifellos „Let’s Keep Dancing“, ein melancholischer Uptempo-Track, dass einen letzten Tanz, einen letzten Abend vor einer Trennung zitiert. Sein Beatgerüst erinnert nicht ohne Grund an den Sound von Steeldrums aus der Karibik: er ist inspiriert von einem karibischen Exfreund Geraldines aus ihrer Zeit auf den Bahamas. Auch soll es das einzige Duett auf dem Album bleiben – mit einem Duettpartner aus der Vergangenheit: Torrini und Byrt samplen hier einen Song, den dieser Exfreund von Geraldine für sie aufgenommen hatte. „Aber wir konnten ihn über zwei Jahre nicht finden“, erinnert sie sich. Sie wollten seinen Song nicht benutzen, ohne vorher mit ihm gesprochen zu haben, doch all Versuche, den Mann zu finden, schlugen fehl. „Aber wir haben nicht aufgegeben – und dann, als das Album fast fertig ist, trifft eine Email von ihm ein!“ Er erlaubte ihnen nicht nur, den Song zu samplen, sondern auch ein verfremdetes Bild von ihm und Geraldine für das Albumcover zu verwenden. Ein kleines Wunder, meint Torrini.

Natürlich habe Geraldine Flowers Stimme, ihre Perspektive gefehlt, sagt die Musikerin. Bis, kurz vor Schluss der Aufnahmen, ihre Freundin Zoe, die Tochter der mythischen Geraldine Flower, ein von ihr geschriebenes Gedicht findet, dass ihrer großen Liebe gewidmet ist. Torrini nimmt das Gedicht auf, und dichtet einen neuen Teil dazu: „Als ob ich es mit ihr zusammen geschrieben hätte. Es war mir so wichtig, dieses Stück zu haben. Jetzt wusste ich: wir können das Album beenden.“ Auch wenn es ihr alles andere als leicht fiel, das Projekt zu beenden. Noch so viele Briefe warteten, noch so viele Geschichten, in denen sie sich hätte verlieren können. Aber: es war Zeit, loszulassen.

Über das Mittel der „biographischen Fiktion“, wie Torrini das Projekt nennt, nähert sie sich der wunderbaren Miss Flower über den Blick, den ihre Liebhaber:innen auf sie hatten, an. Und erzählt damit eine Geschichte von Liebe und Begehren, aber auch von Unabhängigkeit, von Freiheit und Selbstbestimmung: „Diese Briefe haben mir auf jeden Fall die Augen geöffnet. Geraldine war eine unglaublich mutige Frau – insbesondere zu der Zeit. Du kannst dich selbst in ihren Briefen wiederentdecken.“ MISS FLOWER ist aber auch eine Feier der Fantasie und der Freund:innenschaft zwischen Torrini und Geraldines Tochter Zoe Flower, und deren Vertrauen, ihrer Freundin zu erlauben, das Erbe ihrer Mutter als Ausgangspunkt für ein experimentelles, ideenreiches, buntes und immer liebevolles Popalbum zu nutzen.

Unabhängigkeit und Freiheit: das sind auch große Themen für Emilíana Torrini. Seit Mitte der Neunziger ist die Musikerin mit italienisch-isländischen Wurzeln aktiv. Und legte dabei schon immer Wert darauf, unabhängig und selbstbestimmt ihre Kunst ausleben zu können. In den vergangenen zehn Jahren etwa, in denen sie kein Soloalbum veröffentlichte, war sie alles andere als untätig, nahm zahlreiche Features auf, war Teil ausgefallener Projekte, wagte musikalische Experimente mit alten und neuen Freund*innen. „Ich habe mich von der Musikindustrie so eingeschränkt gefühlt. Wenn ich auf der Bühne stand, habe ich darüber nachgedacht, wie ich meine Wäsche mache. Da wusste ich: es ist Zeit eine Pause zu machen. Und habe beschlossen zu zu allen Anfragen, die reinkamen ‚ja‘ zu sagen. Und habe Dinge gemacht, die außerhalb meiner Komfortzone lagen. Ich hatte das Gefühl, etwas tun zu müssen, was mich wieder begeistert“ Die Übung sollte funktionieren, Emilíana Torrini verliebte sich wieder in die Musik.

MISS FLOWER ist Ergebnis dieser wieder entfachten Liebe zur Musik. Verspielt und frei, experimentell und erwachsen taucht Emilíana Torrini in verschiedenste Welten, lebt in den einzelnen Tracks große Liebesgeschichten, kleine Dramen und intensivstes Leben. Und baut damit nicht nur der unnachahmlichen Geraldine Flower ein Denkmal, sondern auch weiblicher Selbstbestimmung und Unabhängigkeit.